Frauenarmut – ein naturgegebenes Schicksal?
Frauen sind auch heute noch sehr viel stärker von Armut betroffen als Männer. Die Wurzeln dieses Ungleichgewichts reichen in Bayern weit in die Geschichte zurück. Erst die Frauenbewegung fing an, die Ursachen wirklich zu bekämpfen.
Jahrhundertelang gesellschaftlich im Aus
Weibliches Geschlecht und Armut: Sie sind seit frühester Geschichte so eng verbunden, dass ihre Verknüpfung fast wie ein Naturgesetz wirkt. Forschende sehen erste Anzeichen für die Zurücksetzung von Frauen bereits zu dem Zeitpunkt, zu dem die Menschen sesshaft wurden.
Immer wieder gab es in der Geschichte Eckpunkte, an denen sich diese Situation in einem vergleichsweisen kurzen Zeitraum verschärfte. Verengt man die Betrachtung auf den deutschsprachigen Raum und vor allem auf das Gebiet des heutigen Bayern, ist ein Beispiel hierfür – gerade in Reichsstädten wie Nürnberg oder Regensburg – die Zeit um 1500.
Im Mittelalter noch begriff die Gesellschaft Armut als rein wirtschaftliches Problem. Und Frauen hatten eine Chance, dieses Problem hinter sich zu lassen: Sie konnten in allen Handwerksbereichen arbeiten, zu denen sie sich körperlich in der Lage sahen. Ganze Wirtschaftszweige, beispielsweise die Textilherstellung, wurden von Frauen dominiert.
Wirtschaftlicher Abstieg
Ab etwa Mitte des 15. Jahrhunderts aber wurden Frauen zunehmend aus allen Handwerkszweigen herausgedrängt. Ihnen wurde Stück für Stück jede Möglichkeit genommen, einer qualifizierten Tätigkeit nachzugehen. Missernten trieben viele Menschen, die zuvor auf dem Land gelebt hatten, in die Städte. Unter den Handwerkern, aber auch generell auf dem dortigen Arbeitsmarkt, wuchs die Konkurrenz. Unter anderem durch das konsequente Zurückdrängen von Frauen wollten die Zünfte, die die einzelnen Handwerkszweige regulierten, diesen Konkurrenzdruck eindämmen. Eingesessenen, männlich geführten Betrieben wollten sie so das wirtschaftliche Überleben sichern. Für Frauen blieb nur die Möglichkeit, schlecht bezahlte Hilfsarbeiten auszuführen oder als Dienstmagd zu arbeiten. Entsprechend groß wurde für alleinstehende Frauen die Gefahr, in die unterste Gesellschaftsschicht abzurutschen und auf Almosen angewiesen zu sein. Gesellschaftlichen Aufstieg oder auch nur ein solides Einkommen konnten sich Frauen ab Ende des 16. Jahrhunderts fast nur noch durch Heirat sichern.
Ohne männliche Führung „verloren“?
Einen Mann an der Seite zu haben wurde auch gesellschaftlich unverzichtbar: Alleinstehende und verwitwete Frauen standen unter dem Generalverdacht sexueller „Unzucht“. Verarmten sie, wurde dies ihrer „Führerlosigkeit“ zugeschrieben, sie gerieten in Verruf. Armut galt damit nicht mehr als rein wirtschaftliches Problem, sondern auch als moralische Verfehlung. Entsprechend wurden Arme immer stärker ausgegrenzt. Betroffenen Frauen blieb oft tatsächlich nur noch die Prostitution, um sich und gegebenenfalls auch die eigenen Kinder zu ernähren.
Besonders schwierig war die Situation für diejenigen, die ungewollt und unverheiratet schwanger geworden waren. Hatten sie zuvor eine schlecht bezahlte Stellung, etwa als Dienstmagd, konnten sie diese als Mütter kaum beibehalten. Stammten sie aus bürgerlichen Kreisen, wurden sie häufig von ihren Verwandten verstoßen und landeten ebenfalls auf der Straße. Viele sahen in der Tötung ihres Neugeborenen – gleich nach dessen heimlicher Geburt – den einzigen Ausweg aus ihrer verzweifelten Lage.
„Vergebens fließt das Blut deiner Kindermörderinnen, Europa! Lass deine Herrscher aufheben die Ursache ihrer Verzweiflung, so wirst du ihre Kinder erretten.“
Aus der Schrift „Über Gesetzgebung und Kindermord“ von Heinrich Pestalozzi, erschienen 1783
Mit Erlass des Strafgerichtsbuchs Kaiser Karls V. wurde Kindsmord 1532 unter Todesstrafe gestellt. Diese Regelung wurde jahrhundertelang beibehalten. Erst ab etwa 1770 begannen Denker wie der Sozialreformer Heinrich Pestalozzi, aber auch verschiedene Theaterautoren, gegen diese verheerende Gesetzeslage anzuschreiben. Im Königreich Bayern wurde die Todesstrafe für Kindsmord 1813 durch eine Zuchthausstrafe ersetzt.
Bereits ab etwa 1700 waren, als letztlich einzige Alternative für ungewollt Schwangere, vielerorts Findelhäuser entstanden, in denen Kinder abgegeben werden konnten. Doch auch für diese Kinder war der Weg in die Armut vorgezeichnet. Mit den Anfängen der Industrialisierung wurden solche Einrichtungen oft unmittelbar mit Manufakturen verbunden: Dort sollten die Kinder früh an eine Arbeit als schlecht bezahlte Hilfskraft herangeführt werden, um den „Hang zum Müßiggang“ zu verlieren. In ihm wurde, noch bis ins 20. Jahrhundert, die wesentliche Ursache für Armut vermutet. Dass diese, gerade bei Frauen, vor allem in niedrigen Löhnen und fehlenden Bildungsmöglichkeiten lag, wollten nur wenige sehen.
Die Rolle der Frauenbewegung
Nicht umsonst galt die Hauptaufmerksamkeit von Pädagoginnen und von Vorreiterinnen einer bayerischen Frauenbewegung der Aufgabe, für Frauen aus den unteren Gesellschaftsschichten gesicherte berufliche Aussichten zu schaffen. Karolina Gerhardinger, die spätere Gründerin der Armen Schulschwestern, bezog schon 1816 in ihre ersten schulischen Konzepte gezielt einen Handarbeitsunterricht mit ein, um armen Mädchen eine Erwerbsmöglichkeit zu erschließen. Julie von Zerzog gründete 1850 eine Näh- und Strickschule in Regensburg. Und Mathilde Jörres schuf in ihrem 1862 gegründeten Stickinstitut gezielt Ausbildungsmöglichkeiten für Mädchen aus der Unterschicht. Die Bekämpfung von Armut und die Schaffung solider beruflicher Perspektiven für Frauen gehörte zu den zentralen Zielen der bayerischen Frauenbewegung, die sich ab den 1890er Jahren formierte. Sie konnte mit Ende des Ersten Weltkriegs nicht nur helfen, das Frauenwahlrecht durchzusetzen. Dass sich etwa zur gleichen Zeit der Blick auf die Armut wandelte und sie nicht mehr als moralisches, sondern als gesellschaftliches Problem wahrgenommen wurde, ist zu einem großen Teil ebenfalls ihr Verdienst.
Ausflugstipp
Unter dem Nürnberger Rathaus lässt sich bis heute das „Nürnberger Loch“ besichtigen, eines der größten noch erhaltenen Stadtgefängnisse, die bis auf das Mittelalter zurückgehen. Menschen wurden in den lichtlosen Räumen vor allem eingesperrt, bis die eigentliche Strafe für sie festgelegt wurde, oder wenn sie nach dem Todesurteil auf ihre Hinrichtung warteten. Vom damaligen Strafrecht waren hauptsächlich die unteren Gesellschaftsschichten betroffen, auch viele als „unehrbar“ geltende Frauen, später auch Kindsmörderinnen.
Quellen- und Literaturhinweise
Bennewitz, Nadja, Bergmann, Ulrike: Nürnbergs LIEDERliche Weyber. Nürnberg, 1999
Grochowina, Nicole: Geschlecht und Eigentumskultur in der Frühen Neuzeit. In: Grochowina, Nicole (u.a.): Eigentumskulturen und Geschlecht in der Frühen Neuzeit. Leipzig, 2005, S. 7 – 20
Mogge-Grotjahn, Hildegard: Armutsrisiken von Frauen und Theorien sozialer Ungleichheit.
In: Dackweiler, Regina-Maria u.a. (Hrsg.): Frauen und Armut – Feministische Perspektiven. Opladen u.a., 2020, S. 29 - 45