Die Problemlöserin
Statt zu jammern, selbst eine Lösung zu finden: Das ist eine Lebensmaxime von Jacqueline Flory. 2016 gründete die Übersetzerin für arabische Sprachen und Mutter von zwei Kindern die Zeltschule, um syrischen Geflüchteten im Libanon eine Perspektive zu bieten.
Loslegen
Es kamen verschiedene Faktoren zusammen, die für Jacqueline Flory den Ausschlag gaben, 2016 die erste Zeltschule zu gründen. Das Bild von Alan Kurdi – dem zweijährigen syrischen Jungen, der auf der Flucht ertrank –, das 2015 die Welt erschütterte, gehörte dazu. Für sie war es unerträglich, zu sehen, wie schnell dieses tragische Ereignis von der öffentlichen Bildfläche verschwand. Sie wollte dem etwas entgegensetzen. Als Übersetzerin für arabische Sprachen waren ihr Syrien und der Libanon vertraut. Mit ihrer syrischen Freundin stand sie in regelmäßigem Austausch. Kurz entschlossen stellte sie auf einer Elternversammlung in der Grundschule ihrer Kinder ihre Idee vor: „Wir sammeln Geld und versuchen, eine Schule in einem syrischen Lager für Geflüchtete zu bauen.“ Das war der Startschuss für den rein aus privaten Spenden finanzierten Verein: 72 Schulen in Syrien sowie im Libanon mit 25.000 Kindern sind daraus hervorgegangen.
„Wenn ich mich damals gefragt hätte, ob es der richtige Zeitpunkt ist, hätte ich wahrscheinlich mit Nein geantwortet – und würde das auch heute noch tun. Mein Mann war eineinhalb Jahre zuvor gestorben und meine Kinder und ich in verschiedenen Phasen der Trauer. Aber ich finde, man muss mit Dingen einfach anfangen, den Mut haben und sich etwas zutrauen."
Direkte Hilfe ohne Umwege
Als Jacqueline Flory 2016 startete, gab es im Libanon 2000 Camps für Geflüchtete, die keine internationale Hilfe bekamen. Es war also von Anfang an klar, dass neben Bildung auch andere Hilfsleistungen nötig sein würden. Das Besondere am Konzept der Zeltschule: Die Schulen werden in die bestehenden Camps integriert. „Alles, was vor Ort erledigt werden muss, wird von den Bewohnerinnen und Bewohnern des Camps erledigt“, erzählt die Leiterin.
Vor jeder Schuleröffnung gibt es Gespräche mit den Familien. „Mir ist wichtig, dass ich mit jedem Kind, das zu uns zur Schule kommt, und seinen Eltern vorher gesprochen habe.“ So kann die Hilfe an die Bedürfnisse der Menschen im Camp angepasst werden. Das Verteilen von Nahrungsmitteln oder anderen lebensnotwendigen Dingen übernehmen die Hilfsbedürftigen selbst: Sie werden zu Helfenden und gestalten das Leben im Camp mit.
Hoffnungsträger Bildung
Früher mussten die Kinder auf den Feldern arbeiten, um den Lebensunterhalt zu sichern. Jetzt lernen sie in der Zeltschule lesen und schreiben. Und sie erleben sich als Teil einer Gemeinschaft. „Für erwachsene Syrerinnen und Syrer gilt im Libanon ein Arbeitsverbot. Kinderarbeit war also lange Zeit die einzige Chance, zu überleben“, erklärt Jacqueline Flory. Bei ihren ersten Reisen fragte sie die Kinder, was sie sich wünschen würden, wenn sie einen Zauberstab hätten. „Am Anfang haben mich die Kinder völlig verständnislos angeschaut. Sie hatten keine Kraft für Träume. Nach einem halben Jahr waren die Reaktionen schon vollkommen anders. Das ist einer der für mich greifbarsten Unterschiede nach all den Jahren: Die Schulen öffnen ein Fenster in die Zukunft.“ Mehrere tausend Kinder besuchen täglich den Unterricht im Libanon, der in mehreren Schichten abläuft und bis in die Abendstunden reicht.
Von Frauen für Frauen
Die Zeltschule ist ein frauengeführter Verein mit mittlerweile sieben Festangestellten. Das habe sich so ergeben: „Es haben sich einfach viel mehr Frauen am Schulleben der Kinder beteiligt als Männer und so dann auch von dem Projekt erfahren.“ Sie und eine andere Kollegin engagierten sich drei Jahre lang ehrenamtlich. Doch das war auf Dauer nicht leistbar, und sie entschieden sich, die Zeltschule hauptberuflich weiterzuführen. Mittlerweile werden sie in Bayern von fünf weiteren Frauen im Bereich Öffentlichkeitsarbeit und Fundraising unterstützt. „Auch wenn es nicht beabsichtigt war, finde ich es wichtig, dass wir ein Frauenteam sind, weil wir so viele Frauenprojekte haben.“
Besondere Projekte für Frauen
Vor allem Frauen, die aus ländlichen Gegenden kommen und ihren Mann oder andere Familienangehörige im Krieg verloren haben, brauchen Unterstützung. Ein Großteil von ihnen hat nicht lesen und schreiben gelernt. In den speziellen Frauenbildungsprogrammen der Zeltschule können sie das nachholen. Ziel ist es, die Frauen fit zu machen für ein selbstbestimmtes Leben. In den Women’s Workshops lernen die Frauen, Handarbeiten herzustellen, die im arabischen Raum gefragt sind und ihnen ein Einkommen ermöglichen. „Für eine Hochzeit werden nicht einfach Tischdecken gekauft, sondern die Tischdecken werden handgefertigt. Wir bilden Frauen ganz gezielt aus, damit sie ihre Familie selbstständig versorgen können, wenn sie nach Syrien zurückkehren.“
Ein anderes wichtiges Projekt ist die IndePENdent-Girl-Kampagne, die es Mädchen ermöglicht, die weiterführende Schule zu besuchen. In den syrischen Schulen bringt die Zeltschule die Schülerinnen außerdem in Ausbildungsberufe. Da sich das Land im Aufbau befindet, sind vor allem handwerkliche Kompetenzen gefragt. „Wir haben mittlerweile Hunderte von Elektrikerinnen, Baugeräteführerinnen und Maurerinnen vermittelt. Bei den Kindern sind diese Mädchen Heldinnen.“
„Sprechen, sprechen, sprechen – der Austausch mit den Menschen ist bis heute einer der wichtigsten Faktoren dafür, wie wir unser Projekt strukturieren und auch umstrukturieren.“
3 Fragen zur Rolle der Frau
Ich verbinde mit Frauen von heute, dass sie mutiger und anspruchsvoller sind als früher. Das finde ich sehr, sehr gut. Ich sehe das an meiner Tochter, und mich beeindruckt das. Bei Frauen meiner Generation beobachte ich ganz oft, dass sie erwarten, dass etwas einfach so auf sie zukommt. Das sehe ich bei meiner Tochter schon gar nicht mehr. Sie ist selbstbestimmt und schaut, was sie möchte und auf welche Art und Weise sie das dann auch bekommt.
Ich werde immer wieder gefragt, wie ich denn als alleinstehende Frau in arabische Länder im Nahen Osten reisen könne. Und dass mir da ja wohl wahnsinnig wenig Respekt entgegengebracht werde. Das ist etwas, was ich gar nicht erlebe. Man begegnet mir dort immer mit großem Respekt. und es war nie ein Thema, dass ich eine Frau bin. Ich empfinde es öfter in Deutschland als Problem: Gerade als meine Kinder noch kleiner waren, wurde ich häufig gefragt, wie ich als Mutter in solche Länder reisen kann. Ein Mann wäre das nie gefragt worden. Diese Vorurteile schlagen mir in Deutschland entgegen. Und ich werde das meistens von Frauen gefragt. In meinem Münchner Umfeld würden sich die meisten Frauen als feministisch bezeichnen und als gleichberechtigt, aber wenn es um die Mutterrolle geht, zeigt sich, wie verfestigt die alten Rollenbilder noch sind.
Ich glaube, dass der Zusammenhalt von Frauen in unser aller Leben eine zentrale Rolle spielen muss. Das funktioniert leider noch nicht so gut. Wenn eine andere Frau Erfolg hat oder unabhängig ist oder Ähnliches, dann reagieren viele Frauen darauf eher empfindlich, so als würden diese starken Frauen anderen etwas wegnehmen. Wir müssen uns mehr darauf besinnen, dass Frauen, die Erfolg haben, die etwas erreicht haben, vorausgehen und den Weg für alle anderen ebnen.

Sie setzte ihre Idee der Zeltschulen kurz entschlossen selbst um – und hat heute ein Team von sechs Frauen um sich.
Das zweigeteilte Leben
In den Flüchtlingsgebieten ist Jacqueline Flory als die Frau bekannt, die Schulen baut. Im Libanon überließen Menschen, die aufgrund der wirtschaftlichen Lage auswanderten, der Zeltschule ihre Häuser. Dass sich in der konfliktreichen Region immer wieder neue Perspektiven ergeben, bereichert die Arbeit der Zeltschule. „Der Libanon ist zwar ein Land, das völlig im Chaos versinkt, aber es hat uns auch ermöglicht, allein dort 40 der insgesamt 72 Schulen zu bauen. Das wäre in Deutschland so nicht möglich. Da steht einem oft die Bürokratie im Weg.“ Für sie und ihre beiden Kinder sind die Camps im Libanon und in Syrien zur zweiten Heimat geworden. Es haben sich viele enge Freundschaften mit Kindern und Erwachsenen vor Ort entwickelt.
Wegen des Sturzes des Assad-Regimes, der geschwächten Position der Hisbollah und der neuen Regierung im Libanon, die aufgeschlossener ist als die letzte, schöpfen viele Hoffnung. Die Bayerin teilt den Optimismus. Gleichzeitig beschäftigt sie, dass sie nicht in allen Camps die Lebenssituation verbessern kann. Das bereitete ihr einige schlaflose Nächte. Was ihr jedoch noch mehr zu schaffen macht: „Wenn ich aus dem Libanon komme, fällt mir zunehmend auf, dass wir in Deutschland Probleme als lebensbewegend ansehen, was diese aber gar nicht sind. Diesen Spagat hinzubekommen, fällt mir immer schwerer.“
„Meine Aufgabe ist, zu vermitteln, wie dringend jede und jeder gebraucht wird, weil es niemals allein machbar wäre."