Die Widerständige
Im Alter von 16 Jahren erlebte Helma Sick, wie ihre Tante die Misshandlungen des alkoholkranken Ehemanns ertrug. Auf die Frage, warum sie ihn nicht verlasse, kam die erschütternde Antwort, dass sie kein Geld habe. Diese Erfahrung in den 1950er-Jahren gehört zu den Schlüsselerlebnissen im Leben von Helma Sick. Die über 80-jährige Finanzexpertin ist für viele junge Frauen Vorbild. Ihre Empfehlung: Männer mehr zu fordern, um Veränderungen herbeizuführen.
Finanzielle Unabhängigkeit als Lebensthema
Frauen, die über eigenes Geld verfügen, waren in Helma Sicks Kindheit die Ausnahme. Ihre Eltern betrieben in einem kleinen Ort im Bayerischen Wald ein Schreibwarengeschäft. Sie selbst saß als Kind häufig unter dem Ladentisch, lauschte den Gesprächen und hörte die Klagen der Frauen. „In den 40er- und 50er-Jahren konnte eine Frau nicht einfach weggehen. Da hielt man durch – auch wenn der Mann öfter zugeschlagen hat“, erzählt sie rückblickend. Nachhaltig geprägt hat sie die Lebensgeschichte ihrer Tante. Erst als der Ehemann gestorben war, verbesserte sich deren Leben. „Da habe ich mir gesagt: Diese Abhängigkeit, das kann keine Perspektive sein für Frauen.“ Eigenes Geld zu verdienen, um unabhängig zu sein, entwickelte sich zu einem Lebensthema.
„Für mich gehört es zur Würde eines Menschen, nicht von einer Lebensgemeinschaft wie der Ehe abhängig zu sein.“
Ausbruch und Aufbruch
Der Wille, scheinbar unumstößliche Umstände nicht als gegeben hinzunehmen, reifte in ihr bereits in jungen Jahren. Helma Sick war eine gute Schülerin und wollte Abitur machen. Die Familie hatte andere Pläne: Sie sollte früh heiraten, um durch einen Mann versorgt zu sein. Für ihre Wünsche war ohnehin kein Platz im Elternhaus, sie erlebte Missbrauch und Gewalt: „Meine Mutter wollte mich nicht und hasste mich. Sie schlug und demütigte mich.“ Ihr Vater hingegen liebte sie abgöttisch – und wurde sexuell übergriffig. Diese traumatischen Erlebnisse verunsicherten sie nachhaltig, ohne dass sie genau begriff, was vor sich ging. „Gerettet hat mich, dass ich eine unglaubliche, aber konstruktive Wut entwickelt habe. Ich wollte allen zeigen, dass mehr in mir steckt.“ Sie tat alles, um auf eigenen Beinen zu stehen und das Elternhaus zu verlassen. Sie machte die Mittlere Reife, wurde Chefsekretärin bei einem Verkehrsunternehmen im Ort und folgte dem Rat ihres Chefs, mehr zu wagen und sich beruflich zu verändern.

Die Herausforderungen in ihrem Leben haben sie wachsen lassen.
Die eigene Emanzipation
Helma Sick ging nach München, wurde Vorstandssekretärin in einem der größten Bauunternehmen Deutschlands. Und sie entdeckte die Frauenbewegung für sich. Mit Anfang dreißig übernahm sie die kaufmännische Geschäftsführung des ersten Frauenhauses in München und engagierte sich in politischen Frauengruppen. Mit Mitte vierzig gründete sie ihr eigenes Unternehmen mit dem Schwerpunkt Finanzberatungen für Frauen. Von schwarzmalerischen Prognosen ließ sie sich nicht beeindrucken. Ihr Ehemann, ein bekannter Chemiker, unterstützte sie bei ihrer Karriere. „Er räumte auf, bügelte seine Hemden und konnte besser kochen als ich.“ Doch als sie immer erfolgreicher wurde und sich bundesweit einen Namen als Finanzexpertin, u. a. durch Kolumnen in Frauenzeitschriften wie „Brigitte“ machte, veränderte das ihre Beziehung. „Solange er als Akademiker das Gefühl hatte, er kann mir etwas beibringen, lief alles gut.“ Aber als sie immer selbstbewusster und bekannter wurde, ging die Ehe in die Brüche. Helma Sick zog einen Schlussstrich.
3 Fragen zur Rolle der Frau
Frauen sind sehr unterschiedlich, das ist ja keine homogene Gruppe. Aber ich denke, im Vergleich zu früher sind sich Frauen viel stärker bewusst, dass sie einen Verstand haben und eigenes Geld verdienen können, um unabhängig zu sein. Und die Rechtslage ist heute natürlich eine ganz andere. Frauen brauchen keine Erlaubnis mehr, um eine Arbeitsstelle anzutreten oder ein eigenes Konto zu haben. Es gibt heute eine ganze Reihe junger Frauen, die taff sind. Und Paare, die gleichberechtigt alle Aufgaben untereinander aufteilen. Das ist wunderbar. Gleichzeitig zeigt die Tradwife-Bewegung, dass das traditionelle Rollenbild noch nicht überwunden ist. Das finde ich erschreckend: Früher war das eine gesellschaftlich auferlegte Abhängigkeit, heute ist es eine Selbstgewählte.
Altersmäßig bin ich da schon draußen. Mir wird stets Respekt entgegengebracht. Aber ich denke, dass der Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes noch nicht in allen Lebensbereichen verwirklicht ist. Frauen werden nach wie vor benachteiligt – in der Öffentlichkeit, in Betrieben, bei der Bezahlung. Da gibt es eindeutig noch Nachholbedarf. Und auch das Thema Familiengründung ist noch nicht gelöst. Viele Männer sind nicht bereit, sich in der Elternzeit mehr zu engagieren und ihre Hälfte der Haus- und Sorgearbeit zu übernehmen.
Eine große Rolle: Ich verstehe mich mit Frauen meist wortlos, das geht ganz prima. Wenn ich Vorträge vor Frauen halte, erlebe ich eine große Offenheit, das ist einfach wunderbar. Männer haben andere Themen. Die wissen häufig gar nicht, wie es ist, mit einem Kind zu Hause zu sein, kein eigenes Geld zu haben und später nicht mehr in den Job zurückzufinden. Die kennen das gar nicht, diskriminiert zu werden.
Ängste erkennen und daran wachsen
Für ihre persönliche Entwicklung, die sie in ihrer Autobiografie beschreibt, war entscheidend, dass sie sich ihren eigenen Ängsten gestellt hat. Denn trotz des beruflichen Erfolgs fühlte sie sich lange als minderwertig. Die Ablehnung ihrer Mutter prägte ihr Selbstbildnis. Und das wollte sie ändern. Die erste Therapie legte den Grundstein für ihre Heirat und half ihr im Umgang mit ihrem Sohn, den sie mit Anfang vierzig gemeinsam mit ihrem Mann im Alter von vier Jahren adoptierten. „Ich hatte Angst, dass ich den Hass meiner Mutter in mir trage und an ihn weitergebe“, erzählt sie. Durch die Therapie eröffnete sich ihr eine neue Welt: „Ich erfuhr Güte, Aufmunterung, Verständnis und Heilung.“ Den Missbrauch des Vaters behandelte sie in ihrer zweiten Therapie mehr als zehn Jahre später. Sie sagt selbst, dass sie es nicht ertragen früher hätte, zu sehen, dass beide Elternteile sie benutzt hatten. Sich Hilfe zu holen, um Ängste zu überwinden und neue, positive Erfahrungen machen zu können, war für Helma Sick ein entscheidender Schritt. „Ich wollte nicht als Opfer durchs Leben gehen. Ich wollte zeigen, dass in mir noch etwas ganz anderes steckt“, sagt sie.
Wie Emanzipation und Erwachsensein zusammenhängen
Wer Veränderungen vorantreiben möchte, muss selbst Verantwortung übernehmen. Darin möchte sie Frauen bestärken. „Wenn man sich als erwachsene Frau nicht um die eigenen Finanzen kümmert, ist das ein Rückfall in kindliche Verhaltensweisen. Ich möchte, dass sich das ändert.“ Helma Sick ist vehement bei diesem Thema. Zu oft während der 30 Jahre, die sie als Beraterin tätig war, ist ihr das immergleiche Muster begegnet: Ein Mann verlässt seine Frau, die zugunsten der Familie ihren Beruf aufgegeben hat. Nach der Scheidung geht die Frau finanziell mehr oder weniger leer aus, weil sie keinen Einblick in die Finanzen der Familie hatte und oft auch keinen Zugang zu Bankkonten und Geld. Deshalb wird Helma Sick nicht müde, zu betonen, dass sich Frauen mit dem Thema Finanzen beschäftigen müssen. „Frauen können sich noch so emanzipiert fühlen. Wenn sie finanziell abhängig sind, sind sie es nicht.“

Leben selbst gestalten zu können, ist für Helma Sick das größte Gut.
Ihre Mission: junge Frauen stärken
Heute leitet ihre Nichte das Unternehmen. Sie selbst hält Vorträge, spricht Podcasts und gibt Interviews zum Thema „Ein Mann ist keine Altersvorsorge“ und zur Bedeutung finanzieller Unabhängigkeit auf Veranstaltungen und Kongressen. Handlungsbedarf sieht sie vor allem bei der finanziellen Bildung und der Familiengründung. Noch immer seien zu wenig Männer bereit, die Hälfte der Haus- und Sorgearbeit zu übernehmen, weshalb immer noch zu viele Frauen zu lange Teilzeit arbeiten und dadurch später zu wenig Rente erhalten. Und sie möchte Mütter ermutigen, sich für eine gleichberechtigte Partnerschaft zu engagieren — finanzielle Unabhängigkeit eingeschlossen. Ihr Tipp: „Wenn die Frau viele Jahre zu Hause bleibt, dann muss aus dem Familieneinkommen ihre Rentenlücke gefüllt werden, z. B. mit einem Fondssparplan. Wie hoch die Rentenlücke ist, kann man bei der Rentenversicherung erfragen.“ Die Rückmeldungen der Frauen zu ihren Vorträgen zeigen ihr, wie schwer es für viele Frauen immer noch ist, sich gegen die alten Rollenbilder zu wehren. Für viele Frauen ist Helma Sick deshalb eine Hoffnungsträgerin. Besonders freute sie sich über die Rückmeldung einer Teilnehmerin, die zur ihr sagte: „Sie setzen Samenkörner in unsere Köpfe in der Hoffnung, dass einige davon aufgehen. Und ich kann Ihnen sagen, das tun sie!“ Ihre Vorträge wird Helma Sick so lange halten, wie es geht: „Ich lebe in einer Seniorenresidenz und habe heute ein so schönes Leben, wie ich es noch nie zuvor hatte.“