Die Beherzte
Wenn sich Jessika Wöhrl-Neuber etwas in den Kopf gesetzt hat, schreitet sie zur Tat. Als die studierte Sozialpädagogin in ihrem Heimatort mit etwa 6.000 Einwohnerinnen und Einwohnern die Idee für ein Familienzentrum hatte, brachte sie nicht nur den Bürgermeister auf ihre Seite.
Mit dem Kind auf dem Arm überzeugen
Es begann 2011. Jessika Wöhrl-Neuber und zwei befreundete Frauen waren sich einig, dass angehende und junge Mütter wie sie in Kemnath, einem kleinen Ort in der Oberpfalz, in Sachen Unterstützungsangebote unterversorgt waren. Es gab zwar vereinzelt Angebote wie Kinderturnen oder Eltern-Kind-Gruppen, aber ein Familienzentrum, wie sie es aus größeren Städten kannten, existierte damals nicht. Ihnen schwebte nicht nur ein Treffpunkt für Mütter und Familien vor – es sollte ein sozialer Ort werden, der Alt und Jung miteinander verbindet. Und der Hinzugezogenen die Möglichkeit bietet, andere kennenzulernen und heimisch zu werden. Sie entwickelten als Elterninitiative ein Konzept und stellten es verschiedenen Stellen vor. Der Kinderschutzbund und die Koordinierungsstelle „Frühe Hilfen“ in Kemnath waren gleich begeistert und halfen bei der Umsetzung. Den damaligen Bürgermeister der Stadt besuchten die Frauen mit ihren Babys und Kleinkindern auf dem Arm. Auch er war aufgeschlossen und stellte für den Start kostenlos eine Wohnung zur Verfügung. Mit einem Budget von 3.000 Euro kauften sie gebrauchte Möbel und richteten Kemnaths neues Familienzentrum ein. Auch bei allen weiteren bürokratischen Prozessen wurden die drei unterstützt. Vorbehalte gegenüber der Idee kamen in der Anfangsphase eher aus der Bevölkerung.
„Der Bevölkerung auf dem Land zu verdeutlichen, was wir eigentlich wollen, war die größte Herausforderung.“
Betonschädel und andere Hürden
Die Notwendigkeit, in der Gemeinde einen öffentlichen Ort für Familien einzurichten, leuchtete einigen nicht gleich ein. „Wir mussten erst mal klarmachen, dass wir nicht nur Weiber sind, die auf ihrem Hintern sitzen und ratschen wollen. Oder die billigen Kaffee ausschenken und der lokalen Gastronomie Konkurrenz machen“, lacht Jessika Wöhrl-Neuber. Neben diesen beiden Hauptargumenten fußte der Gegenwind vor allem auf einem traditionell verwurzelten Verständnis der Großfamilie, die alles unter sich regelt und nicht auf fremde Hilfe angewiesen ist. Doch den Erfahrungen der Sozialpädagogin zufolge bringen gerade junge Familien neue Bedürfnisse mit sich, ebenso wie Menschen, die aus größeren Städten in die kleine Gemeinde ziehen. Ihrem Team ging es in erster Linie darum, ein Familien- und Bürgerzentrum mit einem vielfältigen Angebot für verschiedene Altersgruppen zu schaffen und die Menschen in ihrer jeweiligen Lebenssituation zu unterstützen. Bald waren auch die Blockaden in den Köpfen der Kemnather Bevölkerung überwunden, sodass ihr Team zahlreiche ehrenamtliche Unterstützerinnen und Unterstützer fand – von Jung bis Alt: „Am jüngsten sind die Teilnehmenden unseres Inklusionsprojekts „Kemnaths KinderKunst“. Sie sind so zwischen 13 und 14 Jahren. Am ältesten ist eine Deutschlehrerin des Alphabetisierungskurs mit fast 80 Jahren.“
Familienzentrum Mittendrin: ein Erfolgsmodell
Aus der Elterninitiative entwickelte sich im Lauf der Jahre das „Familien- und Bürgerzentrum Mittendrin“ mit der Stadt als Trägerin. Als Leiterin hat Jessika Wöhrl-Neuber alle Prozesse mitgestaltet und ist froh, dass mit dem Umzug vom Alten Rathaus in das ehemalige Lenzbräu-Gebäude 2025 eine weitere wichtige Etappe erreicht wurde. Die barrierefreien, neuen Räume bieten ihrem Team mit mehr als 60 Ehrenamtlichen und über 25 unterschiedlichen Angeboten den nötigen Platz, um der großen Nachfrage gerecht zu werden. Die absoluten Renner sind die von Hebammen geleiteten Geburtsvorbereitungskurse und die Kurse zur Rückbildungsgymnastik. Außerdem bieten verschiedene Einrichtungen wie z. B. die Beratungsstelle für Schwangerschaftsfragen Sprechstunden an, um Frauen wohnortnah zu unterstützen. Beliebt sind auch die sogenannten Türöffner-Angebote – offene Treffs, bei denen es eine Kleinigkeit zu essen gibt, Kinder das Spielzimmer entdecken können und Ehrenamtliche immer ein offenes Ohr haben. Das Reparaturcafé mit Techniksprechstunde, bei dem unterschiedliche Gebrauchsgegenstände wieder in Schuss gebracht werden, nutzen vor allem die Älteren. Ungezwungene Angebote ohne Anmeldung wie der Spieleabend oder der Schafkopftreff helfen Zugezogenen, Gleichgesinnte zu finden, und Einheimischen, Freundschaften zu vertiefen.
Das Motto „Wir bringen’s zamm“ verweist bereits auf die vielfältigen Angebote. Im Bairischen ist damit allerdings noch mehr gemeint: „Es heißt auch: Wir bauen was auf oder wir schaffen miteinander etwas Großes. Das Mittendrin bringt Menschen und Themen zusammen und bündelt die Energie an einem Ort“, erklärt Jessika Wöhrl-Neuber. Sie möchte auch Vorbild für andere Gemeinden sein und freut sich über ihre Erfolge nach 13 Jahren Arbeit. Einer davon: Als Mitglied des Jugendhilfeausschusses durfte sie mit dafür abstimmen, dass im Landkreis zwei neue Familienstützpunkte eröffnet werden.
„Das Leben auf dem Land ist schön! Aber wir müssen die Lebensqualität gerade für junge Eltern stärken!“

Jessika Wöhrl-Neuber setzt sich für innovative und soziale Ideen auf dem Land ein.
3 Fragen zur Rolle der Frau
Frauen von heute packen an. Sie wissen, was sie wollen, und gehen ihren Weg.
Frauen müssen immer mehr kämpfen als Männer: Ich erlebe es bei mir und bei anderen Frauen, dass gerade das Alter zwischen 25 und 45 Jahren eine extreme „Vollgaszeit“ ist. Da reiben sich viele Frauen zwischen Familie, Beruf und allen sonstigen Themen auf. Ich finde es schade, dass Familie häufig mit Stress verbunden wird, obwohl Familie etwas so Schönes ist. Wir brauchen bessere Lösungen, die es Eltern ermöglichen, dass wirklich beide präsent bei den Kindern sein können und auch im Beruf den Anschluss nicht verlieren.
Der Zusammenhalt von Frauen in meinem Leben spielt eine riesengroße Rolle – vor allem im Bereich der sozialen Arbeit. Es ist unglaublich wichtig, zusammenzuhalten und ein Netzwerk zu bilden. Ich kann ein Loblied auf meine Kolleginnen singen – nicht nur im engeren Umkreis, sondern auch auf die Mitarbeiterinnen der Beratungsstellen, im Netzwerk oder von Kooperationen. Ohne diese starken Frauen und deren Unterstützung könnte ich unsere Themen nicht so zielgerichtet umsetzen.
Talente statt Vorurteile: Inklusion im Fokus
Ein Themengebiet, auf das sich Jessika Wöhrl-Neuber bereits während ihres Studiums spezialisierte, ist Inklusion. Sie spielt im Mittendrin ebenfalls eine zentrale Rolle. So ist in Zusammenarbeit mit dem Verein „Rote Katze“ aus Bayreuth das Inklusionsprojekt „Kemnaths KinderKunst“ entstanden: Dabei gestalten drei Künstlerinnen und Künstler mit psychischen Beeinträchtigungen mit einer Gruppe von Kindern farbenfrohe, individuelle Stühle. Ein besonderes Highlight sind die Übergaben an Institutionen oder bekannte Persönlichkeiten wie zum Beispiel Deutschlands First Lady Elke Büdenbender, bei denen die KinderKunst-Gruppe ihre Werke stolz präsentiert: „Mitzuerleben, wie sich diese verschiedenen Menschen begegnen, ist für mich ein ganz besonderer Moment der Inklusion. Denn wir rücken die Talente der psychisch beeinträchtigten Personen in den Vordergrund“, erinnert sich Jessika Wöhrl-Neuber. In der Gesellschaft würden diese oft ausschließlich in ihrer Rolle als Hilfsempfängerinnen oder Hilfsempfänger wahrgenommen. Das möchte sie ändern. Auch für andere Menschen in besonderen Lebenslagen wie z. B. Menschen mit Depressionen ist das Mittendrin Anlaufstelle.
WeiberWerk: berufliches Frauennetzwerk
Ein anderer Schwerpunkt liegt darin, gezielt Frauen in ihrer beruflichen Entwicklung zu stärken. Dazu wurde im Jahr 2020 das WeiberWerk gegründet. Initiiert von der damaligen Personalleiterin von Siemens Healthineers bietet es eine Plattform, um beispielsweise über Karrierechancen und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu diskutieren. Im WeiberWerk kommt alles auf den Tisch, was berufstätige Frauen beschäftigt, und zwar über alle Berufe hinweg — egal ob Krankenschwester, Mitarbeiterin in einem großen Betrieb oder im Supermarkt, ob Ingenieurin oder Schauspielerin. Das Netzwerk soll Frauen ermutigen, im Beruf sichtbarer zu werden: „Frauen müssen einfach weiter ins Licht treten und mehr wagen“, findet Jessika Wöhrl-Neuber und verweist auf die gläserne Decke, die alle zu spüren bekommen. Frauen sollten ihrer Meinung nach mutiger sein, wenn sie bestimmte Positionen oder Gehaltsstufen erreichen möchten. Tipps aus der Praxis gibt es in Form von Vorträgen oder Veranstaltungen. Dabei geht es auch darum, wie Frauen mit Krisen oder dem Scheitern umgehen können. Oder was es für die Partnerschaft bedeutet, wenn sie sich beruflich verwirklichen möchten. Jessika Wöhrl-Neuber betont, dass ohne die Unterstützung ihres Manns der Aufbau des Familienzentrums nicht möglich gewesen wäre.

Ihr Tipp an Frauen: Seid begeistert von euch und eurer Sache, dann begeistert ihr auch andere.
Zusammenhalt stärken, Vorurteile abbauen
Über die Jahre hinweg hat das Mittendrin alte Strukturen aufgebrochen und sich ein starkes Standing erarbeitet. Für Jessika Wöhrl-Neuber bedeutet das auch eine Art Ritterschlag für die soziale Arbeit, die besonders auf dem Land immer noch eher als weibliche Berufung gesehen wird und nicht als bezahlter Brotberuf. Eine andere Entwicklung, über die sie sich freut: Ein Großteil der Väter nimmt mittlerweile aktiv an Angeboten wie dem Babyvorbereitungskurs, der Neugeborenen-Begrüßung oder den Erste-Hilfe-Kursen für Kinder teil. Auch wenn immer noch meist Frauen den Hauptanteil der Sorgearbeit tragen, ist hier ein deutlicher Wandel in den Familien erkennbar. Jessika Wöhrl-Neubers persönliches Ziel: sich weiterhin für mehr Offenheit, Toleranz und gemeinschaftlichen Zusammenhalt auf dem Land einsetzen, das Mittendrin lebendig halten und immer wieder an die sich ändernden Bedürfnisse der Bevölkerung anpassen. Sie ist überzeugt, dass Zentren wie das Mittendrin den demografischen Wandel verlangsamen und der Allgemeinheit durch die Vorsorgeangebote hohe Folgekosten ersparen können. In Zukunft möchte sie deshalb andere Gemeinden dazu inspirieren, eigene Familienzentren zu eröffnen – dann steht sie auch gerne mit Rat und Tat zur Seite.
„Mein Ziel: Ich möchte das Mittendrin gern als bayernweites Vorbild für gelungenes soziales Zusammenleben auf dem Land etablieren.“